Modellbildung in der Mathematik am Beispiel des exponentiellen und logistischen Wachstums

 

Mathematik-Referat von Silvia Drechsel, März 2004

 

 

Vom exponentiellen  zum logistischen Wachstum

 

 

Wie bereits bekannt ist, lässt sich mit Hilfe der Exponentialfunktion ein ungebremstes Wachstum darstellen. Ein schönes Beispiel dafür sind die uns aus der Biologie bekannten Enzymreaktionen. Treffen Enzymmoleküle stets auf neue, passende Substratmoleküle, so kommt es zu einer exponential anwachsenden Enzymreaktion.

 

Was aber passiert, wenn einzelne Enzymmoleküle auf „falsche“ Substratmoleküle treffen, sprich auf Inhibitoren (Hemmstoffe)? Wie verläuft dann der Graph der Funktion?

 

Hemmstoffe verändern unseren Graphen dahingehend, dass der Anstieg flacher wird, aber immer noch ins Unendliche weiter geht. Wir sprechen hier von einem so genannten beschränkten Wachstum.

 

Doch was, wenn die Hemmung des Wachstums noch stärker ist, so dass die Begrenzung die Unendlichkeit des Wachstums aufhebt und die Funktion somit endlich wird? Was, wenn unsere Enzymmoleküle alle „on the job“ sind und wir eine gesättigte Enzymreaktion haben? Dann ergibt sich bei der grafischen Darstellung der Enzymreaktion eine so genannte „Sättigungskurve“. Mathematisch handelt es sich hier um ein so genanntes logistisches Wachstum: Die Kurve steigt zunächst exponential oder beschränkt an und flacht anschließend – bei größer werdenden X-Werten – bis zu einem zur X-Achse parallelen Verlauf hin ab.

 

 

Modellbildung

 

Sowohl bei der Exponentialfunktion als auch bei den Funktionen des beschränkten bzw. des logistischen Wachstums handelt es sich um so genannte Modelle. Wie in allen wissenschaftlichen Bereichen bedient man sich auch in der Mathematik Modellen, die reale Abläufe möglichst verständlich, einleuchtend und exakt darstellen sollen.

 

Oftmals geht es hier auch um interdisziplinäre Darstellungsformen, denn Mathematik ist kein Selbstzweck, sondern Werkzeug zur Darstellung realer Inhalte, z. B. dem Wachstum von Bakterien- oder Hefekulturen – siehe mitgebrachter Ausdruck -, statistischer Ermittlungen künftiger Absatzzahlen in der Wirtschaft, Vorhersagen über Veränderungen von Populationen bestimmter Arten unter bestimmten Umweltbedingungen usw.

 

Typisch für ein Modell ist, dass man bestimmte Faktoren berücksichtigt und andere vernachlässigt. So kann man – um auf unser biologisches Beispiel zurück zu kommen – die enzymatische Reaktion (Anlegen der Reaktionsgeschwindigkeit an der Y-Achse) innerhalb einer bestimmten bei bestimmten Temperaturverhältnissen (abzulesen an der X-Achse) einmal mit und einmal ohne Inhibitor modellhaft darstellen und bekommt so die Möglichkeit, die Unterschiede abstrahiert und somit konkretisiert abzulesen.

Kohorst und Portscheller schreiben hierzu in learn-line (http://www.learn-line.nrw.de/angebote/modell/hefe/hefe.htm ):

„Wenn es um die modellhafte Abbildung realer Sachverhalte und das Experimentieren mit solchen Modellen, um die Untersuchung der Bedeutung von zwar empirisch vorfindbaren, aber experimentell nicht zugänglichen Einflussfaktoren geht, sind Verfahrensweisen der Modellbildung und Simulation angesprochen.“

 

 

System

 

Untersucht wird in der Modellbildung jeweils ein so genanntes System. Hier gibt es unterschiedliche Klassen: So kann ein System offen oder abgeschlossen (idealtypisch) sein, d. h. es bestehen (so gut wie keine) Wechselwirkungen mit der Umgebung (Bsp. Aquarium), es kann dynamisch oder statisch sein (d. h. die Systemgrößen, beispielsweise die Bevölkerung eines Raumes, verändern sich im Laufe einer Zeit – oder aber nicht, wie beispielsweise bei Gebäuden). Es gibt außerdem kontinuierliche oder diskrete Systeme, d. h. die Systemgrößen verändern sich fortlaufend (fließend) oder aber diskret (d. h. in gewissen Sprüngen). Wenn unter gleichen Bedingungen gleiche Ergebnisse erzielbar sind, spricht man von einem determinierten System; ist dies nicht der Fall – müssen Beschreibungen also durch Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden – so handelt es sich um ein stochastisches System.  Schließlich gibt es stabile Systeme, wo „normale“ Änderungen der Systemgrößen (Bsp. Herzschlagfrequenz) das System (Herz) nicht „kippt“, und instabile Systeme, bei denen bereits kleine Veränderungen der Systemgrößen das System zum Kippen bringen.

 

 

Modell: Typen und Zwecke

 

Was ist also ein Modell, wenn man ein bestimmtes System (z. B. eben die Enzymreaktion) betrachtet? Es ist ein abstraktes Abbild eines Systems. Oft ist ein System zu komplex, um es gedanklich auf einmal zu erfassen. In diesem Fall beinhaltet der Modellbildungsprozess außer der Abstrahierung (z. B. dass wir nicht soundsoviele Moleküle malen, sondern die Enzymreaktion als Funktionsgraph darstellen) noch eine Reduktion auf die wesentlichen Parameter (z. B. Temperatur und Reaktionsgeschwindigkeit) und Wechselwirkungen (z. B. Inhibitoren).

 

Es gibt qualitative Modelle, d. h. die Systemgrößen und ihre Wechselwirkungen sind nur verbal beschrieben, quantitative Modelle, bei denen eindeutige mathematische Größen und Beziehungen die Systemgrößen und Wechselwirkungen beschreiben, Beschreibungsmodelle, welche Abläufe innerhalb eines Systems veranschaulichen, Erklärungsmodelle, die kausale Verknüpfungen darstellen und die Abläufe so verdeutlichen und Entscheidungsmodelle, welche mögliche zukünftige Entwicklungen innerhalb des Systems (z. B. Änderungen hinsichtlich der enzymatischen Reaktion bei Änderung der Substratmenge) vorher sagen.

 

 

Simulation: Ziel und Fehlerquellen

 

Eine Simulation ist z. B. das Erstellen einer Prognose mit Hilfe des Experimentierens innerhalb des Modells, z. B. durch Hochrechnungen. Hier ist das Ziel die Analyse des künftigen Systemverhaltens (z. B. wie die Reaktionsgeschwindigkeit unserer Enzyme bei Hinzugabe von soundsoviel Substrat sein wird).

 

Hierbei können sich Fehler ergeben, zum Bsp. Vereinfachungsfehler (beispielsweise könnte ein Biologe wissen wollen, wie sich die Enzymreaktion unter Einwirkung einer kompetitiven bzw. einer nicht-kompetitiven Hemmung darstellt. Dann würde die Darstellung der Reaktion bei nur einer Art von Hemmstoffen nicht die gewünschten Erkenntnisse bringen.

Verfahrensfehler ergeben sich, wenn man genaue Daten benötigt und ein ungenaues Rechenverfahren anwendet. Rechenfehler entstehen, wenn sich beispielsweise Rundungsfehler gegenseitig verstärken. Schließlich kann es zu Interpretationsfehlern kommen, wenn aus einer Prognose falsche Schlüsse gezogen werden, weil die spekulative Vorhersage als definitives Ergebnis missinterpretiert wird.

 

 

Zurück zu einem konkreten Beispiel: Wachstumsprozesse bei der Hefekultur

 

Auf den zur Verfügung gestellten Unterlagen ist ein schönes Beispiel für logistisches Wachstum dargestellt, nämlich die Entwicklung einer Hefekultur. Anhand dieses Beispiels möchte ich den Weg von den zu sammelnden Daten bis hin zum Modell des logistischen Wachstums verdeutlichen.

 

Es handelt sich um ein Beispiel für nichtlineares, beschränktes Wachstum.

Carlson sammelte bereits 1913 sorgfältig Daten über das Wachstum von Hefekulturen. Diese Daten kann man zunächst als Tabelle wiedergeben:

 

 

Eine Aufgabe hierzu könnte nun zum Bsp. heißen: „Beschreiben Sie das Wachstumsverhalten der Hefekultur“.

 


Die Lösung der Aufgabe könnte dann  zum Beispiel so aussehen, dass man das Wachstum mittels Liniendiagramm – und zwar einem Menge-Zeit-Diagramm – darstellt.

 

 

 

Mittels dieser Darstellungsweise ist – leichter als bei Zahlenkolonnen – erkennbar, dass das Wachstum hier während der ersten etwa acht Stunden etwa exponential verläuft und danach immer mehr abflacht.

 

Man kann außerdem die Hypothese aufstellen, dass sich der Graph asymptotisch einer Parallele f(t) = K zur t-Achse annähert, wobei K für Kapazitätsgrenze steht und diese Kapazitätsgrenze zwischen 660 und 670 mg liegt: 660 < K < 670 (mg).

 

Machen wir uns jetzt eine Tabelle, mit der wir überprüfen können, ob der erste Teil der Funktion tatsächlich exponentiell ist:

 

Zeit (in Stunden)

Hefemenge (in mg)

 

 

0

9,6

1

18,3

2

29,0

3

47,2

4

71,1

5

119,1

6

174,6

7

257,3

8

350,7

9

441,0

10

513,3

11

559,7

12

594,8

13

629,4

14

640,8

15

651,1

16

655,9

17

659,6

18

661,8

 

Hier können wir leicht erkennen, dass es sich bereits am Anfang der Funktion nicht um eine exponentielle handelt, denn die Beträge verdoppeln sich bereits am Anfang nicht. Statt dessen wird anfangs nur ein fast doppelter Betrag erreicht, wenn man die jeweiligen Werte miteinander vergleicht. Die Differenz verringert sich jedoch ständig in zunehmendem Maße und geht bei Erreichen der Kapazitätsgrenze gegen null. Man könnte auch sagen, dass die Differenz zwischen gegebenem Kurvenverlauf und einer Parallele zur t-Achse immer mehr gegen null geht. Wir haben es hier also mit einem Näherungswert zu tun.

 

Wir müssen uns jetzt fragen, wie die Hefezunahme von der erreichten Hefemenge abhängt. Diese Frage soll uns ein Graph beantworten. Wir gehen hierbei von einer Hefemenge aus, die mitten zwischen zwei vollendeten Stundeneinheiten erreicht ist und bezeichnen diese Mengen  mit Nμ (t). Dies ist die an der X-Achse anzulegende Größe, der Mittelwert der Hefemenge in mg. An der Y-Achse legen wir die stündliche Hefezunahme delta N, ebenfalls in mg, an.

 

 

Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich hier mehr oder weniger um eine nach unten geöffnete Parabel handelt. Bis zu ihrem Scheitel wird die Hefezunahme immer stärker, danach nimmt sie ab (weniger starke Zunahme), bis bei etwa 660 mg Hefe keine weitere Zunahme erfolgt. Das bedeutet, dass Nullwachstum hier sowohl bei einer Hefemenge von null als auch bei einer Hefemenge von 660 gegeben ist. Die Parabel heißt Ausgleichsparabel.

 

Und wodurch kommt es zur Hemmung des Wachstums?

 

Bekanntermaßen ist Hefe in der Lage, Alkohol zu produzieren, d. h. der Alkoholgehalt steigt mit wachsender Hefemenge.

 

Tatsächlich lässt sich experimentell nachweisen, dass Alkohol auch der inhibitierende Faktor hinsichtlich des Wachstums bei einer Hefekultur darstellt. Das Wachstum begrenzt sich ohne Außeneinwirkungen selbst – es handelt sich um eine negative Rückkopplung. Denn der von der Hefe bei ihrem Wachstum produzierte Alkohol hemmt gleichzeitig auch ihr Wachstum.

 

Es muss also, anders als bei Exponentialfunktionen, wo ein Wachstum immer bis ins Unendliche anhält, beim logistischen Wachstum einen hemmenden, also einen so genannten Korrekturfaktor geben.

 

Hier lässt sich durch Beobachtungen und Messungen feststellen, dass die Auswirkungen des Korrekturfaktors in umgekehrtem Verhältnis zum eigentlichen Ablauf, also zur Funktion, stehen. D. h. solange noch wenige Hefekulturen vorhanden sind, produzieren diese auch noch wenig Alkohol, der ihr Wachstum wiederum bremst und umgekehrt.

 

 

 

Literatur:

 

Kohorst, Helmut und Portscheller, Philipp; Wozu Hefe nicht alles gut ist... Vom exponentiellen zum logistischen Wachstum; in mathematik lehren; Heft 97 / 1999


 

 

 

Mathematische Modellbildung als Motivationspusher für den Mathematikunterricht

 

Wir haben gesehen, dass mathematische Modelle reale Prozesse veranschaulichen. Wir benötigen das Modell des logistischen Wachstums sowohl für die Darstellung von Wachstumsprozessen aus der Biologie (z. B. Entwicklungen von Populationen, die nach oben hin – z. B. durch begrenzte Nahrungsvorräte – beschränkt sind), der Chemie (z. B. Verbrennungsreaktionen, die aufhören, wenn nicht mehr genügend brennbares Material vorhanden ist), der Wirtschaft (Verkaufsstatistiken bei irgendwann erwarteter Marktsättigung) und anderen Bereichen. Andere Modelle verdeutlichen andere Entwicklungen, so stellt sich z. B. radioaktiver Zerfall als Exponentialfunktion dar und andere Funktionen verdeutlichen beispielsweise Zusammenhänge in der Erziehungswissenschaft. Wir benötigen die Mathematik demnach in all diesen Bereichen, zumindest dann, wenn wir uns wissenschaftlich mit einem dieser Bereiche beschäftigen möchten.

 

Die Modellbildung zeigt uns also die Anwendbarkeit mathematischer Kenntnisse auf ganz andere Gebiete auf und verdeutlicht so, dass – zum Glück – eben doch nicht alles, was wir im Fach Mathematik lernen, „nur gut für die nächste Klausur“ ist.