Der Spagat zwischen Familie, Beruf
und Schulausbildung? Kann das funktionieren und wenn ja, wie geht das? Wir
stellen Ihnen eine nicht mehr ganz so junge Schülerin und deren Familie vor.
Lernen noch im Erwachsenen-Alter? Für viele nicht nachvollziehbar, für manch anderen Menschen jedoch Alltag. Sowie für Sandra S. aus Straelen, die täglich zwischen Kind, Partner, Beruf und vielen, vielen Hausaufgaben versucht, ihren Alltag zu bewältigen, um ihren verspäteten Wunsch nach einem Studium ein Stückchen näher zu kommen. Dies zu schaffen und dabei immer noch allem gerecht zu werden, wie funktioniert das? Wir fragen Sie und wollen auch den Gegenpart, ihren Freund befragen, wie sich die vielen Baustellen seiner Freundin auf ihn auswirken. Mutiert er etwa langsam aber sicher vom emanzipierten Mann zum Hausmütterchen? Wir werden es herausfinden!
Vor
mir sitzt Sandra S., 31 Jahre alt, Mutter eines 10-jährigen Sohnes und
Schülerin im 3. Semesters des Abendgymnasiums Viersen. Seit 2002 bietet das
Gymnasium eine Sonderform an, das Abitur nachzumachen. Das Angebot richtet sich
hauptsächlich an Personen, die aufgrund ihrer Familiensituation oder ihres
Berufes nicht die Möglichkeit haben, regelmäßig abends zur Schule zu gehen. Es
handelt sich um das „abi-online“, Abitur über das Medium Internet.
Als
Sandra damals nach dem 9. Schuljahr das Gymnasium gegen den Willen ihres Vaters
verließ, in der festen Überzeugung, dass sie das Abitur niemals brauchen würde,
wusste sie nicht, dass sie fast 17 Jahre später wieder die Schulbank drücken
würde, um das unwichtigste Papier der Welt doch noch in den Händen halten zu
können.
So
beendete sie die Realschule mit der Fachoberschulreife und absolvierte eine
Ausbildung zur Bürokauffrau. Schnell merkte sie, dass dies dann doch nicht der
Weg war, den sie gehen wollte. Nach der Geburt ihres Sohnes Joshua begann Sie
1999 eine zweite Ausbildung zur Justizvollzugsbeamtin, in der großen Hoffnung
nun endlich den Beruf gefunden zu haben, der ihr Spaß machen sollte. Leider
wurde ihr nach einigen Jahren klar, dass durch die klare Hierarchie in einer
Behörde, der mittlere Dienst nicht viel Einfluss hatte und sie so oft nicht die
hinter den Entscheidungen stand, die sie durch Anordnungen Vorgesetzter
durchsetzen musste. Erschwerend hinzu kam, sich als Frau in einer Männerdomäne
durchzusetzen. Es folgten einige harte Jahre, die viele unterschiedlichen
Hürden bargen, die nicht spurlos an unserer Interview-Partnerin vorübergegangen
waren. Sie stand vor der schwierigen Entscheidung, so weitermachen zu müssen
oder nochmals von vorne anzufangen. Sie entschied sich für das letztere, um
sich beruflich weiterqualifizieren zu können.
Und
nun hat sie ihr Ziel fast erreicht. Im Frühjahr verlässt sie die Schule mit der
Fachhochschulreife, um dann ab dem 1. September 2007 ihr Studium zur
Sozialpädagogin in Nijmwegen zu beginnen:
Reporter:
Sandra, erzählen Sie uns doch, wie sich Ihr Alltag seit abi-online gestaltet?
Sandra:
Montags und Freitags habe ich Präsenzphase in Viersen. Meine Tage sehen dann so
aus, dass ich um 15.45 Uhr von zu Hause los fahre und montags um 21.00 Uhr, freitags gegen 23.00 Uhr erst wieder
heimkehre. Das kann unter Umständen ganz schön stressig sein. Hinzu kommt, dass
ich meinen Sohn unterbringen muss, da mein Freund bedingt durch seinen
Schichtdienst nicht immer zu Hause ist. Wenn ich dann an diesen Tagen selbst
noch Frühdienst habe, weiß ich manchmal gar nicht, wie ich den langen Tag
bewältigen soll und das einzig Erholsame ist dann die Hin- und Rückfahrt zur
Schule mit sehr lauter Musik und einer dazu laut kreischenden Fahrerin. Das
entspannt mich kurzfristig ungemein.
Reporter:
Ich gehe davon aus, dass auch Sie zur Zeit Weihnachtsferien haben. Wie
verbringen Sie die besinnlichen freien Tage?
Sandra:
Ja richtig, auch ich habe Schulferien, aber eher nur auf dem Kalender. Leider
habe ich in Mathe noch einige Defizite, was unser nächstes Thema angeht und
muss wohl oder übel auch in den Ferien lernen, um nicht den Anschluss nach den
Ferien zu verpassen. Das Gute ist, dass ich momentan keine Hausaufgaben machen
muss. Das gibt mir ein etwas befreiteres Gefühl und ich hatte sogar ein wenig
Zeit mit meinem Sohn zu backen und Weihnachtsgeschenke zu organisieren. Schade,
dass die Ferien bald wieder um sind. In meinem Beruf hatte ich leider keinen
Urlaub, so dass ich also nur die reinen Feiertage richtig genießen kann, ohne
an Schule oder Job zu denken.
Reporter:
Wie oft gehen Sie zusätzlich noch in ihrem Beruf arbeiten und wird „abi-online“
von ihrem Arbeitgeber unterstützt?
Sandra:
Ich bin Landesbeamtin und mein Dienstherr unterstützt Bildung sehr. Das heißt,
dass ich montags und freitags generell vom Spätdienst freigestellt werde. Da
ich teilzeitbeschäftigt bin, ist dies gut organisierbar. Generell arbeite ich 3
Tage in der Woche und jedes zweite Wochenende sonntags. Nur der Nachtdienst,
der 3 mal im Jahr ansteht und jeweils 7 Nächte dauert, stört ein wenig. In
dieser Zeit kann ich die Präsenztermine nicht besuchen. Aber dies ist für die
Schule kein Problem. Anhand der rechtzeitig eingesendeten Hausaufgaben sehen
die Lehrer, dass ich am Ball bleibe.
Reporter:
Was hat sich seit „abi-online“ in Ihrem
Leben verändert?
Sandra:
Ich bin mir nicht sicher, ob es negativ oder positiv ist, dass ich damals den
Aufwand „kurz das Abi nachzumachen, um zu studieren“ völlig unterschätzt habe.
Mein Sohn war noch relativ jung und konnte abends nicht alleine bleiben, so
dass ich also abends nicht die Möglichkeit hatte, außer Haus Unternehmungen nachzugehen.
So war mein Gedanke, dass ich die
abendliche Zeit sinnvoller, als vor dem Fernseher zu hocken, nutzen könnte und entschied mich zur
Anmeldung am Abendgymnasium.
Verändert
hat sich seitdem sehr viel in meinem Leben. Wenn ich nicht gerade arbeite, den
Haushalt auf Vordermann bzw. (-frau)
bringe oder mit meinem Sohn unterwegs bin, sieht man mich meist im
Wohnzimmer am Laptop sitzen und lernen. Vor abi-online habe ich das Wochenende
gerne mal genutzt, um mit Freunden bis tief in die Nacht zu feiern, falls mein
Sohn anderswo übernachtete. Dies kommt nun eigentlich gar nicht mehr vor.
Freitags bin ich vor 23.00 Uhr nicht zu Hause und dann zu kaputt um noch
auszugehen und der Samstag ist meist für Hausaufgaben reserviert. Da kann ich
mir keinen Kater vom Vortag erlauben.
Wenn
ich nicht gerade sonntags in den Knast muss, ist bei uns Familientag. Es ist
ganz wichtig, dass man zwischen all den Verpflichtungen nicht vergisst, dass
man auch noch Kind und Partner hat.
Reporter:
Wie reagieren die beiden denn auf „abi-online“?
Sandra:
Ich bin sehr stolz auf meine beiden Männer. Sie müssen schon oft zurückstecken
und viel Verständnis haben. Manchmal habe ich ein ganz schön schlechtes
Gewissen. Ärgerlich werde ich, wenn mein Freund mir nach 8 Stunden Knochenarbeit
vor dem PC unterstellt, ich hätte doch die Hälfte der Zeit mit Freunden
gechattet. Dann werde ich echt wütend.
Ansonsten
machen mein Sohn und ich mittags oft gemeinsam Hausaufgaben oder vergleichen
halbjährlich unsere Zeugnisnoten. Vor Klausuren ist gegenseitiges Daumendrücken
angesagt.
Mein
Freund gibt mir, außer den kleinen Sticheleien, die nötige Ruhe und Kraft, die
ganze Sache durchzustehen. Manchmal bewahrt er mich vor Nerven-zusammenbrüchen,
wenn ich glaube, alles wächst mir über den Kopf und das Gefühl spüre, alles
läuft aus den Bahnen. Für die Unterstützung meiner Familie bin ich sehr
dankbar. Wenn sie nicht mitspielen würden, könnte ich meinen Traum „Abitur“
begraben.
Mein
restlicher Freundeskreis muss zur Zeit sehr zurückstecken. Nach anfänglichem
Unverständnis haben sie es nun aber auch akzeptiert. Oder resigniert? Keine
Ahnung! Auf jeden Fall nehmen sie es hin, dass ich nur noch alle paar Wochen
ein Stündchen für sie über habe.
Reporter:
Man hört heraus, dass es auch Phasen gab, wo sie alles hinwerfen wollten?
Sandra:
Durststrecken kamen immer wieder mal vor. Das ist, glaube ich, ganz normal.
Wichtig ist dann, nicht aufzugeben. Durchhalten ist das A und O. Dies hat mir mal ein Kollege geraten, der
ebenfalls das Abi nachgemacht hat. An diese Worte musste ich oft denken.
Hinzu
kommt, dass wir eine wirklich super starke Klassengemeinschaft haben. Da hilft
einer dem anderen. In Situationen, in denen ich dachte, jetzt verstehe ich gar
nichts mehr, habe ich im Kursforum „um Hilfe geschrien“ und prompt haben sich
liebe Klassenkameradinnen gemeldet und ihre wertvolle Freizeit geopfert, um mit
mir zu lernen. Einfach toll! An dieser Stelle, ganz lieben Dank!
Letztes
Jahr hatte ich eine besonders schlimme Phase. Ich fühlte mich völlig
überfordert mit allem und stand kurz vor einem burn-out. Meine Haut zeigte mir
durch Ausschlag meine Grenzen und ich musste meine Ziele neu überdenken. Leider
habe ich oftmals den Hang zum Perfektionismus und mich somit mit meinen
privaten und beruflichen Vorstellungen völlig überfordert. Eine 3-wöchige
Mutter-Kind-Kur an der Ostsee hat mir dabei geholfen, wieder neue Kraft zu
tanken. Dort habe ich auch gelernt,
überflüssigen Ballast von mir zu werfen. Toll war an dieser Zeit, dass ich
fernab von Schule und Beruf viel Zeit mit meinem Sohn verbringen konnte. Ein
Lehrer war sogar so nett und hat mich per Post auf dem Laufenden gehalten, so
dass ich auch klausurrelevanten Unterrichtsstoff nicht verpasste. Als ich
wieder zurück war, fühlte ich mich gestärkt, für die nächste Runde.
Reporter:
Aus ihren Aussagen zu schließen, ist „abi-online“ also mehr als zweimal
wöchentlich zur Schule zu fahren und zu denken, dass es damit getan wäre?
Sandra:
Auf jeden Fall. Es wird von den Schülern selbständiges Vorausarbeiten des
Unterrichtsstoffes erwartet. Die Hälfte der Themen werden in der Schule
übermittelt, die andere Hälfte muss sich die / der Studierende im Selbststudium
beibringen. Hinzukommen noch die Hausaufgabe und natürlich die Vorbereitungen
auf Klausuren.
Reporter:
Ist ihre Klasse seit Bestehen noch komplett?
Sandra:
Nein, in den ersten Monaten sind viele gescheitert. Nach einem Jahr waren wir
fast auf die Hälfte reduziert. Nach dem 2. Semester sind auch wieder einige
hinzugekommen, die abi-online aus den unterschiedlichsten Gründen irgendwann
unterbrechen mussten oder die Einführung in die zweite Fremdsprache besaßen und
so Klassen überspringen konnten.
Sehr
viele von uns gehen nach dem 4. Semester mit dem Fachabitur ab. Das derzeitige
5. Semester besteht sogar nur noch aus insgesamt 5 Schülern.
Reporter:
Ihnen reicht also das Fachabitur?
Sandra:
Leider habe ich das Gefühl, mir läuft die Zeit weg und ich muss ein bisschen
Gas geben, um meinen inneren Zeitplan einhalten zu können.
Aus
diesem Grunde habe ich mich entschlossen, die Schule mit der Fachhochschulreife
zu beenden. Das reicht für meine weiteren Pläne.
Reporter:
Was kommt nach „abi-online“?
Sandra:
Ich habe mich letzte Woche bei der Fachhochschule in Nijmwegen eingeschrieben.
Dort werde ich ab dem 01.09.2007 Sozialpädagogik studieren. Wenn ich mich
beeile, kann ich damit in vier Jahren fertig sein.
Reporter:
Und wie werden Sie in der Zeit ihr Leben finanzieren?
Sandra:
Wieso? Studieren werde ich neben meiner Berufstätigkeit. Auch wenn ich noch
nicht ganz genau weiß, wie lange ich das durchhalten werde, bis ich dann wieder
an die Ostsee fahren muss.... (lacht)! Aber wie heißt es so schön: Es gibt kein
größeres Leid, was sich der Mensch selbst angedeiht. Und manchmal glaube ich
trotz Stress, dass dies zu meinem Leben einfach dazugehört. Und wer weiß,
vielleicht komme ich ja irgendwann mal an und denke, so jetzt hast du dich
gefunden. Mal sehen!
Reporter:
Mike, Sie sind der langjährige Freund von Sandra. Wie erleben Sie „abi-online“ in den letzten anderthalb Jahren?
Mike:
Ehrlich gesagt, wünsche ich mir manchmal, dass es schnell vorbei sein soll,
aber wenn ich noch an das bevorstehende Studium denke, merke ich, dass ein Ende
wohl nicht so bald in Sicht sein wird!
Reporter:
Wieso? Man könnte ja fast denken, Sie müssten lernen und nicht ihre Freundin!
Mike:
Naja, Lernen muss ich zwar nicht, aber ziemlich viel aushalten und ertragen. Es
gibt Phasen, da geht zu Hause nichts mehr. Meine Freundin steht kurz vor dem
Nervenzusammenbruch und raten Sie mal, wer den Frust und Ärger abbekommt?
Soviel sei gesagt, nicht der kleine Junge, der in unserem Haushalt wohnt. Noch
Fragen?
Reporter:
Und wie gehen Sie dann damit um?
Mike:
In der Ruhe liegt die Kraft. Außerdem versuche ich mit viel Humor die Situation
zu entschärfen. Manchmal hilft schon ein Spaziergang um den Block, um meinen
Hausdrachen wieder runter zu bekommen.
Reporter:
Ihre Freundin sagte uns, sie unterstellen ihr statt mehrstündigem Lernen
privates Chatten im Internet?
Mike
(lacht): Oh ja, damit kann ich sie richtig schön ärgern. Und ob das so ist!
Vielleicht merkt sie es nicht. Ihre Ausrede ist immer, dass ihr gerade jemand
schulrelevantes über einen privaten Chatbereich erklären würde, aber das glaube
ich nicht. Ansonsten wundere ich mich, was an Mathematik so lustig ist, dass
ich oftmals lautes Lauchen meiner Freundin vernehme, wenn sie „wichtige“
e-mails bekommt.
Reporter:
Haben Sie manchmal das Gefühl, ihre Freundin ist nun mehr mit dem PC liiert als
mit Ihnen?
Mike:
Ach im Großen und Ganzen passt es schon. Sie ist ja auch fernab der Schule ein
ziemlich chaotischer Mensch und deshalb genieße ich die freie Zeit in meinem
Kreativkeller und gehe meinen Hobbies nach, wenn sie oben sitzt und lernt.
Reporter:
Und haushaltstechnisch, inwieweit sind Sie da seit „abi-online“ involviert?
Mike:
Nicht sehr viel mehr als vorher auch. Aber wenn ich als Babysitter Geld
verdienen würde, wäre ich mittlerweile schon sehr reich. Ich glaube, ich
verbringe zur Zeit mehr Zeit mit Sandras Sohn als sie selbst. Aber wir
verstehen uns prima und deshalb ist es auch keine wirklich große Mehrbelastung.
Aber wenn sie zwischendurch von noch viel mehr Kindern spricht und ich mir dann
überlege, wer dann in Zukunft aufpassen müsste, wird mir schon ganz anders und
ich lenke sie ganz schnell vom Thema ab.....
Reporter:
Glauben Sie, dass in den nächsten Jahren irgendwann wieder Ruhe fernab von
Schule und Bildung eintreten wird und sie wieder ein ganz normales
Familienleben führen werden?
Mike:
Nein, ganz bestimmt nicht. Meine Freundin kommt hundertprozentig auf neue
verrückte Ideen, die eine Mittdreißigerin noch unbedingt mal „schnell“
nachholen muss. Ich lass mich überraschen!
Gemeinsam sind wir stark......
Für Mike, weil der immer für mich da ist
Im Urlaub gibt es nur uns...