Wie Hänschen lernte, lernt Hans nimmermehr   

              

Erwachsenenspezifisches Lernen     

                                                                          

Das alte Sprichwort "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" kann heutzutage nicht mehr gültig sein, denn unsere schnelllebige Zeit erfordert ein ständiges Weiterlernen (siehe Rechtschreibung). Eher könnte man sagen: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans allemal." Denn die Anforderungen am Arbeitsmarkt fordern von uns ständig die Bereitschaft und Fähigkeit neues Wissen zu erwerben und zu verarbeiten. Was gestern noch das "Nonplusultra der Wissenschaft" war, ist heute schon wieder "Schnee von gestern". Wir müssen also Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzen, um dieser Informationsflut begegnen zu können. Dazu benötigen wir andere Lernstrukturen und -mechanismen als Kinder. Vor diesem Hintergrund ist es interessant genauer zu prüfen, inwiefern Erwachsene anders lernen als Kinder und welche Konsequenzen dies für die Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung hat.

 

 

Lernverhalten von Kindern

 

Kinder lernen vorwiegend im Spiel und durch die Beobachtung der Erwachsenen. Für sie sind eigene Erfahrungen wichtiger als Gebote oder Verbote. Sie lernen mit allen Sinnen und brauchen daher eine ansprechende Umgebung. Wer Kinder beim Spielen beobachtet, erkennt, dass sie oft  voll von ihrer Tätigkeit gefesselt sind, sie nehmen ihre Umgebung nicht wahr. Jede Unterbrechung von außen, z.B. durch die Mutter, die zum Essen ruft, bedeutet eine starke Störung, was auch schon mal durch entsprechende Unwillensbekundungen gezeigt wird.

 

Maria Montessori beobachtete Kinder bei dieser konzentrierten Arbeit und entwickelte daraus ihr pädagogisches Konzept. Sie schuf eine geeignete Lernumgebung, so dass die Polarisation der Aufmerksamkeit auch in Kinderhäusern und Schulen wirken konnte. Andere Reformpädagogen haben ebenfalls die Bedeutung des ganzheitlichen Lernens betont. (vgl. Berthold-Otto-Schule, in: Bergner 1995). Die Ergebnisse der neueren Gehirnforschung geben ihnen Recht und legen uns Lehrerinnen und Lehrer nahe, auch die rechte Gehirnhälfte aktiv in den Lernprozess einzubinden. Dies kann durch einfache kinesiologische Übungen (Brain-Gym / Edukinestetik) und/oder durch handlungsorientierten Unterricht geschehen. Die Schule soll als "Haus des Lernens" den Kindern eine anregende Umgebung bieten, die sie auf ihrem Weg fördernd begleitet.

 

Das Lernverhalten von Kindern und Möglichkeiten seiner Optimierung durch didaktische und methodische Überlegungen sind Gegenstand verschiedener Forschungen, deren Ergebnisse in der Referendar- und Lehramtsanwärterausbildung besprochen werden. Daher möchte ich in diesem Artikel den Schwerpunkt auf die Überlegungen zum Lernen von Erwachsenen legen.

Als EW-Lehrerin am Weiterbildungskolleg Abendgymnasium in Viersen habe ich verschiedene Erfahrungen zu diesem Thema gesammelt, zum einen durch das Unterrichten von Erwachsenen, zum anderen aus Gesprächen und nicht repräsentativen Umfragen der Studierenden zum erwachsenengemäßen Unterricht und natürlich auch durch das Studium verschiedener Veröffentlichungen.

 

 

Lernverhalten von Erwachsenen

 

Die Erwachsenen haben persönliche Problemlösungsstrategien und Einstellungen entwickelt. Für den Unterricht bedeutet dies, dass die Studierenden  zuerst versuchen werden, den neuen Unterrichtsstoff in ihr bisheriges Denkschema einzugliedern. Piaget bezeichnet diesen Vorgang mit dem Begriff der Assimilation. Wenn sie aber im Laufe ihres Schulbesuchs mit neuen Aspekten konfrontiert werden, die sich nicht in ihr bisheriges Denkschema einfügen lassen, müssen sie ihr bisheriges Schema verwerfen und ein neues entwickeln (nach Piaget: Akkommodation). Im Unterricht kann man dies u.a. an der Aufdeckung von Vorurteilen deutlich machen.

Dieser Schritt fällt Erwachsenen normalerweise schwer. Deswegen finde ich es wichtig, den Erwachsenen das zugrunde liegende Lernmodell transparent zu machen. So kann vermieden werden, dass sie die Aufgabe ihres Denkschemas als persönliche Niederlage empfinden.

 

Auch die Prägung durch frühe Leitsätze, wie "Du bist zu dumm" oder "Du bist zu faul" oder "Das schaffst Du doch nicht" machen uns Erwachsenen oft das Leben unnötig schwer. Für das Lernen ist es wichtig, uns dieser Sätze aus unserer Kindheit bewusst zu werden und sie in positive Merksätze umzuwandeln. Aus "Ich bin dumm" kann dann z.B. werden "Ich habe schon die mittlere Reife geschafft. Ich werde auch das Abitur schaffen." oder aus "Das schaffe ich nicht" wird "Ich habe schon eine abgeschlossene Berufsausbildung. Jetzt werde ich auch den Schulabschluss schaffen". Wenn diese negativen Leitsätze nicht erkannt werden, kann es u.U. keine Chance einer Revision geben. (Beyer Bd1, 1997, S. 269)

 

Nach G.L. Huber (in: K.Kunert 1997, S.133ff) gibt es ungewissheits- und gewissheitsorientierte Erwachsene. Ungewissheitsorientierte Lernende reagieren auf Widersprüche und Ungewissheiten motiviert und herausgefordert, während gewissheitsorientierte Lernende die vorhandenen Einschätzungen von sich und ihrer Umgebung möglichst konstant halten möchten.

Für die Unterrichtspraxis bedeutet dies eine neue Perspektive der Binnendifferenzierung. Es gibt in leistungsinhomogenen Lerngruppen auch noch die Unterscheidung zwischen Ungewissheits- und Gewissheitslernenden. Dies hat nach Huber Auswirkungen auf den anzuwendenden Unterrichtsstil, denn ungewissheitsorientierte Lernende lernen besser bei kooperativem und gewissheitsorientierte besser bei traditionellem Unterrichtsstil. Fach- und lerngruppenspezifisch muss die Lehrkraft demzufolge den effektivsten Stil wählen und die gewissheitsorientierten Lernenden schrittweise zu offeneren Unterrichtsformen führen.

Im Mathematikunterricht habe ich oft gemerkt, dass sich besonders die Studierenden mit freieren Arbeitsformen anfangs schwer taten, die mit einem in Bezug auf ihre mathematischen Fähigkeiten negativen Selbstbild in den Unterricht kamen. Durch vorgegebene Musterlösungen und Lösungen zur Selbstüberprüfung, zusätzliche Hilfen bei lückenhaftem Vorwissen usw. konnten die gewissheitsorientierten Lernenden schrittweise an eigenständiges, selbstverantwortliches Lernen herangeführt werden und die Vorteile der Gruppenarbeit nutzen.

Das Projekt “abitur-online” in NRW, an dem ich als Mathematiklehrerin am WBK Abendgymnasium Viersen teilnehme, bietet durch die auf einer Lernplattform bereitgestellten Materialien die Möglichkeit zu individuellem Lernen und zur Selbstüberprüfung. Außerdem kann ich im individuellen Email-Kontakt mit den Studierenden gezielte Lernhilfen geben. 

 

Die eigene Erfahrung, die wir mit dem Lernen machen, wenn wir uns z.B. mit dem neuen Medium Computer und seiner Nutzung im Internet vertraut machen, sollte bei der Überlegung, wie Erwachsene lernen, ebenfalls einbezogen werden. Dieser Prozess ist m.E. gut mit der Situation von Studierenden zu vergleichen, da wir die uns vertrauten Lerntechniken zur Aneignung von Fachwissen nicht ohne weiteres anwenden können, also auch eine neue Lernerfahrung machen.

Die Scheu vor dem Fremden auf der einen Seite und die Freude dieses Medium nutzen zu können auf der anderen Seite bewirkten bei mir die Motivation, mich dieser Aufgabe zu stellen. Durch "Trial and Error" lernte ich bei lückenhaftem Grundwissen immer mehr dazu. Diese Vorgehensweise verunsicherte mich oft, ein zusammengefasster Vortrag, den ich rezipieren könnte, wäre meiner Lerntechnik eher entgegengekommen. Doch jetzt lernte ich durch ständige Anwendung und daraus resultierende Erfolge und weiterführende Probleme. So musste  ich eine mir wenig geläufige Vorgehensweise und Arbeitstechnik anwenden und habe schließlich doppelt dazu gelernt.

 

Erwachsene müssen lernen, die Perspektiven zu wechseln, um sich mit fremden Thesen auseinander zusetzen. Sie neigen häufig dazu, dass sie ihren Erfahrungen und Einstellungen widersprechende Thesen sofort heftig kritisieren oder gar als völlig indiskutabel ablehnen. 

Den Erwachsenen müssen also verschiedene Perspektiven aufgezeigt werden , um die Subjektivität der Wahrnehmung bewusst zu machen. Das Aufzeigen und Diskutieren unterschiedlicher Perspektiven und ihrer Auswirkungen kann dann die Studierenden in die Lage versetzen, unbekannte Phänomene zu durchschauen und zu entscheiden, aus welcher Perspektive sie handeln wollen.

Wenn an die Vorgabe neuer Perspektiven durch die Lehrkraft das eigene Auffinden neuer Sichtweisen treten soll, muss die Beobachtungsfähigkeit der Studierenden geschult werden. Denn erst wer durch Beobachtung Unterschiede feststellt, kann auch zwischen verschiedenen Perspektiven wählen, um zu neuen Problemlösungsstrategien zu kommen. "Wenn man keine Unterschiede macht, sieht man nichts, Beobachten heißt unterscheiden.“ (Krause-Isermann u.a. 1994, S. 50)

 

Außerdem sollten wir Lehrerinnen und Lehrer auch nicht außer Acht lassen, dass es eine selektive Wahrnehmung gibt, die bei Studierenden dazu führen kann, dass neue, unbequeme, nicht einzuordnende Ideen nicht aufgenommen werden.

Der Neigung der Menschen in Altbewährtem zu verhaften, müssen die Lehrkräfte Rechnung tragen, indem sie deutlich auf die neuen Vorgehens- und Denkweisen hinweisen. Nur die Thematisierung des wissenschaftlichen Vorgehens und eine entsprechende Umsetzung im Unterricht kann den Studierenden bei einer möglichen Irritation helfen.

Erwachsene, die "gebrochene" Bildungsbiographien haben, werden mit dieser Vorgehensweise vermutlich Schwierigkeiten haben. Sie können Faktenorientierung im Unterricht leichter aushalten, da sie als Bestandteil des Regelschulsystems vertraut ist, während "experimenteller Umgang mit Mehrdeutigkeiten eine intellektuelle Beweglichkeit fordert, die trainiert werden muß". (Krause-Isermann u.a. 1994, S.238)

 

Bei der Bewältigung dieser Aufgaben kann eventuell der systemische Ansatz von Niklas Luhmann hilfreiche Handreichungen geben, der uns vor Augen führt, dass sowohl die Lehrkräfte als auch die Studierenden "psychische Systeme" bilden, die in "sozialen Systemen" agieren. Wilke (1993) führt dazu aus, dass ein "psychisches System" sich selbst steuert (autopoeitisch ist) und seine Grenzen durch die Festlegung eines systemspezifischen Sinns, z.B. in Normen und Werten, bestimmt. Dies führt dazu, dass andere Systeme nur wahrgenommen werden, wenn sie wichtig für die Aufrechterhaltung des eigenen Systems sind. Für das Erziehungssystem bedeutet dies, dass die Generativität über das Lernen des Lernens herbeigeführt werden muss. Die Unterrichtenden müssen sich selbst als Operationen des Systems Schule begreifen, die Effekte auslösen und damit die Realität Schule verändern. Die Institution Schule ist im systemischen Sinne nicht statisch, sondern lebt von der Interaktion der Lehrenden und Lernenden. Unterrichtende und Lernende haben jeweils die Optionen, sich Wissen anzueignen oder nicht, am Unterricht teilzunehmen oder nicht, den Unterrichtsstoff anzunehmen oder nicht, Erlerntes zu sichern oder zu verschütten. Dies hat zur Folge, dass Lernen als Angebot zu interpretieren ist, dass die Beobachtungsgabe auf sich selbst und auf der Systemebene geschärft werden muss, dass Methoden der Selbstreflexion erarbeitet werden müssen. (nach: G. Graeßner auf dem Bildungsforum '97 in Essen, 24.10.97). Daher sind die Reflexion des eigenen Lernens, das Planen von Lernprozessen, das Lernen lernen in der Erwachsenenbildung wichtige Themen. “Gefragt sind Lernwege und Lernsysteme, die Kompetenzen am Gegenstand entfalten und den Transfer mitliefern.” (E. Nuissl, 2002)

 

"Wenn wir das Prinzip der Selbstorganisation des Lernprozesses ernstnehmen, hat das weitreichende Konsequenzen für die Theorie und Praxis der Lehre. Der/die Lehrende schafft "lediglich" Bedingungen für die Selbstorganisation der Lernenden. Mit anderen Worten 'erzeugt' der Lehrer nicht mehr das Wissen, das 'in die Köpfe der Schüler soll' , er 'ermöglicht' ...Prozesse der selbsttätigen und selbständigen Wissenserschließung und Wissensaneignung." (aus Arnold 1993b, S.53, in Arnold/Siebert 1995, S91)

Das Lehren und Lernen soll nach E. Meueler (1997, S.44ff) als Erfahrungsaustausch und nicht als Belehrung gesehen werden. Allerdings ist "die angemessene Begleitung selbständig lernender Erwachsener (...) eine lebenslang nicht auszulernende Kunst" (Meueler 1997, S.45).

Diese konstruktivistischen Gedanken führen mich zu der Umwandlung eines bekannten Spruches:

 

“Nicht für das Leben lernen wir, sondern für das Lernen leben wir!”

 

 

 

 

 

 

 Für die Lehrerinnen und Lehrer der Erwachsenenbildung hat dies folgende Konsequenzen:

 

 

 

Literatur:

 

R.Arnold & H. Siebert, Konstruktivistische Erwachsenenbildung, Hohengehren 1995

H.Siebert, Über die Nutzlosigkeit von Belehrungen und Bekehrungen, Soest 1996

Krause-Isermann, J.Kupsch, M.Schumacher (Hrsg), Perspektivenwechsel, Bielefeld 1994

E.Meueler in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg), Werte - Wandel - Widersprüche, Soest 1997, S. 44-46

E. Nuissl, Lernverständnis steht zur Debatte, in: E & W 10/2002, S. 26f

H.Wilke, Systemtheorie, Stuttgart/Jena, 4.Aufl.1993

P.Clupke in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg), Entwicklungstrends und ihre Bedeutung für die Weiterbildung, Soest 1996, S.82-91

K.Beyer, Handlungspropädeutischer Pädagogikunterricht, Bd 1 und 2, Hohengehren 1997

G.L.Huber, Neue Formen der Gruppenarbeit in: K.Kunert (Hrsg), Neue Lernmethoden für pädagogische Berufe, Hohengehren 1997

I.Müller / C.Reimer, Wie organisiere ich mein Lernen?, in: Die Deutsche Schule 1996

R.Bergner, Die Berthold-Otto-Schule in Magdeburg in: Pädagogik 1/95, S.50-55

Wege der Weiterbildung Hefte: 5 / 1992, 10 u.11 / 1995, 15 / 1997

Bildungskommission des Landes NRW, Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft, 1996

Kultusminister des Landes NRW, Richtlinien für das Abendgymnasium

Organisationsentwicklung an Schulen des ZBW, Dokumentation der Tagung vom 21.2.96

 

Gisela Delfs-Swora 

Weiterbildungskolleg Abendgymnasium Viersen

Email: gisela@delfs-swora.de

 

 

erstellt: 10.9.2003

aktualisiert: 25.9.2007